Eine truestory @ LiGa über’s Mit- und Mutmachen, Zimmer, Häuser und eine fliegende Schulleiterin (oder haben wir da was verwechselt?)! 


Oh, dieser graue, lieblose Betonklotz… Wenn Marion aus dem Fenster ihres Schulleitungsbüros schaut, sieht sie immer das gleiche Bild: Die ehemalige Hausmeisterwohnung auf dem Schulhof wird seit Jahren nur noch als Abstellkammer genutzt. Der Klotz löst schon lange und immer zuverlässig ein drängendes Gefühl in ihr aus: 600 Kinder und Jugendliche, 600 Persönlichkeiten, ein Vielfaches an Stärken, Kompetenzen, aber auch Herausforderungen. 600 Lebensgeschichten werden hier geprägt. Wo sehen wir diese Persönlichkeiten? Wo toben sie sich aus, wo fließen ihre eigenen Ideen, Vorstellungen, Sehnsüchte ein? Wo können sie sich hier entfalten, ankommen, sich selbst erfahren und erleben? Wo ist die gestaltende Beteiligung, wo sind die Begegnungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen auf Augenhöhe?  

Obwohl Marion als Schulleiterin der Carl-Bantzer-Schule in Schwalmstadt gemeinsam mit ihrem Team schon vergleichsweise viele Möglichkeiten und Freiheiten an der kooperativen Gesamtschule geschaffen hat, lässt sie das Gefühl, dass etwas fehlt, nicht los – einzig der sportliche Schulalltag lässt kaum Raum und Zeit, den Gedanken zu vertiefen.  

Im Programm „LiGa – Lernen im Ganztag Hessen“ der Deutschen Kinder und Jugendstiftung bringt Marion seit September 2021 viel Energie auf, um das ganztägige Lernen an der CBS weiterzuentwickeln. In Werkstatt-Treffen lernt sie die Geschichten anderer LiGa-Schulen und ihrer Menschen kennen, saugt alle Inspiration auf und beschäftigt sich intensiv mit designbasierter Schulentwicklung. 

Es ist die Herbst-Werkstatt 2022, die den Stein ins Rollen bringt. Um 15:00 Uhr wird es im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main mucksmäuschenstill, so spürbar hat sich der Raum mit Inspiration und Ideen gefüllt, nachdem Jan Lotter seine Präsentation beendet. Als ausgebildeter Künstler an der Hochschule Offenbach war er im Schuljahr 2018/2019 Artist in Residence im „fliegenden Künstlerzimmer“ an der IGS Wollenbergschule.

Das fliegende Künstlerzimmer stand seit 2018 bereits auf den Pausenhöfen von 6 Schulen. Als mobiles Wohnatelier – entworfen und gebaut für genau dieses besondere Projekt – erwacht es durch die Artists in Residence auf dem Schulhof zum Leben und bietet Raum für Offenheit, Mut, Freiheit, Vertrauen und Begegnung.

Marion hört ganz genau zu, als Jan beschreibt, wie er in seiner Rolle die Kinder und Jugendlichen erlebt, wie er mit ihnen in seinem "Zuhause auf Zeit" auf dem Schulhof Erlebensräume schafft, in denen sie über sich hinauswachsen, sich selbst neu und mit einer wunderbaren Selbstwirksamkeit erfahren können: als Tanja, Juri und Dilara, statt „nur“ als anonyme Schüler*innen.

Zwei Stunden und viele Gedanken an "ihren" Betonklotz später präsentiert Marion den anderen LiGa-Teams die nächsten Schritte im Schulentwicklungsprozess an der Carl-Bantzer-Schule und keiner traut seinen Ohren: „Wir machen unser eigenes Künstlerzimmer. Und zwar nicht nur ein Zimmer, sondern ein Haus. Das muss von nirgendwo eingeflogen werden, das ist schon da und das fliegt auch nicht mehr weg.“  

Setzt Marion sich etwas in den Kopf, dann wird es auch passieren, das wurde uns schnell klar. Zurück in der Schule setzt sie bereits alle Hebel in Bewegung und telefoniert sich die Finger wund. Priorität ist es, zu klären, ob und wie dieses Haus denn rechtlich überhaupt genutzt werden darf. Schritt für Schritt und Telefonat für Telefonat ist sie sicher, dass es klappen kann, nein, klappen muss! Sie will die Idee gemeinsam mit ihrem Team weiter mit Energie und Leben füllen. Was genau in dem Haus passieren und erlebbar werden soll, möchte sie allerdings nicht alleine entscheiden. Das sollen die wichtigsten Personen an der CBS tun: die Schüler*innen.  

Die nächste Herausforderung steht bevor: Die Schüler*innen sollen im Mittelpunkt der Ideenfindung für das Mitmachhaus stehen, sie sollen Ownership für das Haus empfinden und sich außerhalb des Schulalltags Zeit nehmen, um die wirklich wichtigen Fragen aufkommen zu lassen. Auch dieser Herausforderung nimmt sich das gesamte Team der Carl-Bantzer-Schule sich an und zeigt, wie zentral die Bedürfnisse ihrer Schüler*innen für sie sind.

Sie holen sich Unterstützung zur Hand. Nicht, weil sie es nicht alleine könnten, sondern weil sie bereits erlebt haben, dass eine Perspektive von außen manchmal sehr wertvoll sein kann. Vom Programm LiGa kennen sie uns, Berit und Vivian, den innovationhub.schule. Schnell wird es konkret und wir bekunden unsere Unterstützung und Begeisterung für das Haus-Projekt.

Wenn nun von der Idee gesprochen wird, nennen sie es immer „Das Mitmachhaus“. Ein schöner Name, finden wir, doch auch das steht nicht fest. Die Schüler*innen sollen bei der Gestaltung des Hauses gerne die größtmögliche Freiheit haben und das meint auch die Namensgebung.

In einem konkretisierenden, zweitägigen Workshop durchlaufen wir mit den Schüler*innen die ersten Schritte der Innovationsreise. Sie sollen tief in ihren Köpfen graben und mal wirklich in sich reinhören „Was brauchen wir, um unsere Persönlichkeit in diesem Haus entfalten zu können?“ Sie lernen, sich und die Perspektiven Anderer zu sehen und zu verstehen und erschaffen gemeinsame Leitgedanken aus hunderten, wilden und losen Post it´s.

Die Schüler*innen leisten bei der Gestaltung ihres "makers space" ganze Arbeit!

Diese Überlegungen ebnen den Weg für die Phase der Großen Ideen. Schließlich wissen nun alle ganz genau, was ihnen wirklich wichtig ist und was sie bei einer Umsetzung nicht missen möchten. Die verschiedensten, mutigsten und größten Ideen werden gesammelt und die wirklich wirksamen kommen gezielt zu Tage.  

Eine Gruppe entwickelt die Idee von festen Klassenstunden im Mitmachhaus, um den Klassenzusammenhalt zu stärken und mehr „schöne“ Zeit mit der Lehrkraft zu verbringen. 

Andere Schüler*innen beschäftigen sich mit Ideen für die Raumgestaltung. Jede*r soll sich im Mitmachhaus wohlfühlen und Räume zum Ausruhen, Spaß haben und Begegnen erleben, ohne Noten- und Leistungsdruck. Besonders wichtig ist den Lernenden auch der Umgang miteinander und den Gegenständen, den Räumen im Haus. Sie selbst stellen Regeln auf und beachten, dass sie umgesetzt werden.

Diese und weitere Ideen präsentieren sie am zweiten Tag des Workshops auch einigen Lehrkräften. Sie sind aufgeregt und wollen an dieser Stelle alles richtig machen. Schnell merken aber alle, dass sie hier nicht in einer gewöhnlichen Unterrichtssituation oder unter Druck arbeiten: Sie sitzen beisammen, werden tatsächlich ko-kreativ aktiv und begegnen sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf Augenhöhe. Gemeinsam designen sie Vorschläge, wie die Ideen ausprobiert und in der echten Praxis erprobt werden können. Alle haben Lust auf spannende und mutige Hacks!

Einige Monate später steht dem Mitmachhaus nichts mehr im Weg. Geballte Kräfte haben das Haus bereit für die Renovierung gemacht!

Regelmäßig treffen sich jetzt die Schüler*innen, um die übrigen Fragen zu beantworten, zu planen, wie die Umsetzung des Mitmachhauses ablaufen soll. Besonders wichtig ist ihnen, dass sich alle beteiligen können und sie sich einig werden. Sie haben inzwischen gelernt, wie wichtig es ist, dranzubleiben, an einem Strang zu ziehen und sich gegenseitig zu motivieren.  

Und mit jedem Blick wird es klarer und eindrücklicher: bereits jetzt, in der Zeit der Planung, lernen und erleben alle genau das, was sie sich durch die Umsetzung des Mitmachhauses wünschen: selbstständig arbeiten, ohne Druck, auf Augenhöhe mit den Lehrkräften, Lernen ganz praktisch erleben, die eigenen Ideen in der Realität verwirklichen. Hier ist in der Tat der Weg schon das Ziel. 

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